Ihr persönliches Leben und auch unser Leben als Kirche ist gerade sehr von der Corona-Pandemie bestimmt.


Diese Zeit lenkt von einigen Problemen und Tatsachen ab, die vor „Corona“ viel Raum eingenommen haben. Vielleicht konnte man auch merken, dass manches, was vor dieser Zeit als Problem gesehen wurde, plötzlich  an Bedeutung verloren hat, weil andere Probleme aufgetaucht sind.2020-10-31_07_36_53-Pfarrer_Hartung.jpg

Innerkirchliche Themen, die viele Menschen unserer Gesellschaft schon lange nicht mehr interessieren, sind auch bei den kirchlichen Insidern aus dem Blick geraten oder haben sich geändert, weil uns „Corona“ gerade  vor Herausforderungen stellt, die wir nicht hätten erahnen können. 

Die Kirche verliert in der mitteleuropäischen Gesellschaft immer mehr Mitglieder und gilt in vielen Bereichen sogar als tot. 

Dabei stehen viele Gründe im Raum, manche davon sind sehr ernst zu nehmen, andere davon sind Klischees. 

Da gibt es Interessengruppen, die vertreten die Position, dass die Kirche zu konservativ, zu altmodisch ist.

Dann haben wir auf der anderen Seite Gruppierungen, die meinen das krasse Gegenteil, nämlich dass die Kirche zu modern und offen geworden ist.

Verschiedene Denkansätze und verschiedene Positionen, die sich oft nur in einem Punkt einig sind, nämlich: „Die Kirche muss sich ändern“.

Manfred Lütz, ein deutscher Arzt, Schriftsteller, und katholischer Theologe, hat dieses Phänomen aufgegriffen und ein Buch geschrieben, welches heißt: „Der blockierte Riese – Psychoanalyse der katholischen
Kirche".[1]

In einem Interview wurde er einmal gefragt: 
„Welche Blockaden muss denn die Kirche lösen, um wieder in und modern zu sein?“
Seine Antwort war: „Schon solche Fragen nicht stellen. Sondern andere Fragen stellen, z.B. „Warum gehen denn überhaupt noch Menschen in die Kirche?“

Er sagt: Im 4. Jh., das war wohl mit das lebendigste Jahrhundert der Kirchengeschichte, da waren gerade mal 15% der römischen Reichsbevölkerung Christen. Und dieser, im Verhältnis zu heute, kleine Haufen hat sich nicht darüber beschwert, dass es so wenige sind. Die Grundstimmung war: „Immerhin sind wir 15%“. Das ist eine völlig andere Sichtweise als die, die uns heute oft begegnet.

In seinem Buch versucht Manfred Lütz, die moderne Psychotherapie auf die Kirche anzuwenden. 

Das ist eine Grundhaltung, die nicht nur auf die Defizite schaut. Mit Defiziten sind wir ja in persönlichen Leben, in der Gesellschaft und auch in der Kirche gut versorgt. Da findet man scheinbar so viel, dass man wirklich meinen könnte, dass die Kirche in Mitteleuropa rasant ihrem Ende entgegen geht. 

Wer sucht, der findet auch. Wer Defizite sucht, wird sie finden. Wer mit dem Müllwagen durch die Kirchengeschichte fährt, wird ihn füllen können.
Das Motto der „alten“ Psychiatrie und Psychotherapie hat, wie Lütz es sagt, so funktioniert: „Sie haben ein Problem? Da hätte ich noch eins für Sie.“[2]

Gegen diese einseitige Betrachtungsweise schrieb er sein Buch für Christen, die nicht jammern wollen.

Es geht ihm darum, sich nicht nur an den Problemen zu orientieren, sondern besonders die Ressourcen zu sehen und zu nutzen.

Wenn man mit der gleichen Energie auf das Gute schauen würde, das es in der Kirche auch gibt, kann man merken, dass es da auch viel Wertvolles gibt. Ohne dieses Wertvolle und Gute würde es dieses Gebilde, das wir Kirche nennen, bestimmt nicht mehr geben.

Dass in der Kirche und, wenn wir ehrlich sind, auch im eigenen Leben und in der Gesellschaft nicht immer alles gut läuft, ist kein Geheimnis. Deshalb sind das Leben, die Gesellschaft und auch die Kirche nicht  automatisch tot. Sicher wird in nennenswerten Bereichen noch einiges verschlafen, aber deswegen ist die Kirche noch nicht völlig am Ende. 

Liebe Schwestern und Brüder!

In vielen Arbeitsbereichen konnte ich erleben, was plötzlich in der Kirche alles möglich wird, wenn manches nicht mehr sein muss.

Ich durfte erleben, dass man mit einem wachen Blick nicht nur einen Müllwagen im kirchlichen Treiben füllen kann, sondern auch eine Schatztruhe.

Und mir ist deutlich vor Augen geführt worden, dass es sehr ratsam ist, sich an den Ressourcen zu orientieren, die ehren- und hauptamtlich verfügbar sind und nicht nur an dem, was alles (vermeintlich) sein muss. Sonst ist die Gefahr groß, Menschen zu überfordern.

Im ersten Treffen mit den Ehrenamtlichen der beiden Pfarreiengemeinschaften hat mir eine Frau gesagt: „Ich hoffe, dass Sie durchhalten.“ Später ist mir deswegen das Evangelium eingefallen, in dem Jesus sagt: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,28-30)

Wenn wir als Kirche merken, dass die Last zu groß wird und drückt, wenn wir merken, dass es schwer fällt, das vorherrschende Pensum durchzuhalten, kann da der Blick von Prof. Lütz helfen, nämlich dass wir uns mehr an dem orientieren, was möglich ist, und erst in zweiter Linie an dem, was alles (vermeintlich) sein muss. 

Auf diese Aufgabe, die wir gemeinsam als Kirche im Kahlgrund haben, freue ich mich!

Ihr Pfarrer Andreas Hartung